Reformdiskussion


Die Evangelischen Kirchen in Deutschland befinden sich inmitten eines gewaltigen Transformationsprozesses. In diesem Prozess geht es um nichts weniger als die Zukunft der Organisation der evangelischen Kirche.
Dass ein solcher Prozess auf allen Ebenen Stress auslöst, ist wenig verwunderlich. Dass in ihm unterschiedliche Vorstellungen von Kirche und unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Kirche in Zukunft gestaltet sein soll, aufeinanderprallen, ist ebenso wenig verwunderlich.
Wie diese unterschiedlichen Vorstellungen jedoch diskutiert und reflektiert werden, scheint unbefriedigend zu sein. Denn immer wieder begegnen – zumindest mir – in diesem Prozess stereotyp zwei widersprüchliche Klagen:
Einerseits wird beklagt, dass der ganze Reformprozess nicht hinreichend theologisch reflektiert und verantwortet sei. Der Vorwurf lautet: Es herrsche „reiner Pragmatismus“, „kopfloses Agieren“, „rein betriebswirtschaftlich-ökonomisches Denken“. Es fehle die Vision und vieles mehr.
Dagegen wird nun andererseits wiederum eingewendet: Niemand wisse, wie die Kirche der Zukunft aussehen werde; zu vieles sei noch unbekannt, und überhaupt erschöpfe sich die theologische Diskussion in zumeist richtigen, aber letztlich völlig abstrakten Leitsätzen mit wenig praktischem Reformnutzen. Demgegenüber sei ein pragmatisches, im besten Falle agiles Changemanagement notwendig.
Steffen Bauer hat diese gegensätzlichen Positionen in seinem Buch „Kirche der Menschen“ auf die Schlagwörter „Kirchenentwicklung“ versus „Ressourcensteuerung“ gebracht (129 ff.). He gesteht beiden Seiten ihr (partielles) Recht zu, zeigt aber auch die Grenzen beider Herangehensweisen auf und fordert deshalb eine Ambidextrie (Beidhändigkeit) der Weiterentwicklung, die beide Seiten verbindet.
Faktisch lässt sich jedoch zumeist ein Durcheinander, das oft in einem Gegeneinander mündet, beider Positionen beobachten. Dabei ist der Diskurs (nicht immer und nicht bei allen, aber oft) geprägt durch unausgesprochene und ungeklärte Voraussetzungen, Annahmen und Idealbilder.
Diskurstheoretisch ist es dann aber wenig verwunderlich, dass sich in dieser Gemengelage („alt bewährte“) Machtstrukturen, Beharrungsstrukturen und Eigeninteressen Geltung verschaffen und durchsetzen.
Um aber den kirchlichen Transformationsprozess bewusst, zielgerichtet und vor allem verantwortlich miteinander gestalten zu können, ist es notwendig, eben diese Voraussetzungen, Annahmen und Idealbilder transparent zu machen und miteinander ins Gespräch zu bringen.
Hierfür kann D. Ritschls Konzept der impliziten Axiome hilfreich sein. Mit seiner Hilfe lassen sich die Vorannahmen und Ideale der verschiedenen Narrative von Kirche und ihrer Zukunft transparent machen und konstruktiv miteinander ins Gespräch bringen.

Stories und implizite Axiome

D. Ritschl (1929–2018) war ev. Theologe, der an verschiedenen Universitäten, zuletzt in Heidelberg, lehrte. Sein Konzept der impliziten Axiome hängt eng mit seinem Begriff der „Stories“ zusammen, wie er es unter anderem in seinem Buch „Zur Logik der Theologie“ entwickelt hat.
Ritschl entwickelt den Begriff der Story von den biblischen Geschichten her:


Entscheidende Teile der biblischen Bücher bestehen aus Erzählungen. Diese Grundform, die wir aus bestimmten und benennbaren Gründen vorläufig „Story“ nennen, ist ein mäßig langes Satzgefüge, das in denselben oder anderen Worten nacherzählt und in vier, höchstens fünf verschiedenen Funktionen verwendbar ist. Oft wird beim Hören oder Nacherzählen die ursprünglich intendierte Funktion einer „Story“ durch eine andere vertauscht. Eine Reihe von Einzel-„Stories“ kann eine Gesamt-„Story“ ergeben oder auf eine schwer erzählbare Gesamt-„Story“ hinweisen.
Mit „Story“ kann etwas ausgedrückt werden, wofür andere Idiome ungeeignet wären. Vor allem kann durch „Stories“ die Identität eines Einzelnen oder einer Gruppe artikuliert werden. Menschen sind das, was sie in ihrer „Story“ über sich sagen (bzw. was zu ihnen gesagt wird) und was sie aus dieser „Story“ machen (45).

Hier ist vorgedacht, was gegenwärtig (auch jenseits einer biblischen Theologie) als „Narrativ“ bezeichnet wird: also Erzählungen, die in einer (Erzähl-)Gemeinschaft (Welt-)Erklärungen liefern, Identitäten schaffen, Werte vermitteln und Emotionen auslösen. Auch in der Diskussion zum kirchlichen Transformationsprozess wird gegenwärtig häufig auf den Begriff des Narrativs rekurriert. Man fragt nach den zugrunde liegenden Narrativen (z. B. Kirchendämmerung oder Gesundschrumpfen etc.) oder versucht gar, neue Narrative zu setzen (Wachsen gegen den Trend…).
Das Besondere an Ritschls Konzept ist demgegenüber, dass er noch eine Ebene tiefer fragt und reflektiert. Er fragt nach den impliziten Axiomen, die wiederum den Stories selbst zugrunde liegen:

Regulative Sätze (implizite Axiome)
Die Steuerungsmechanismen, die bei einem Menschen oder bei einer Gruppe für überprüfbares Denken und Sprechen und für geordnetes Handeln sorgen, kann man „regulative Sätze“ nennen. Sie sind nicht unbedingt und in jedem Fall sprachlich ausformulierte Sätze, sie verlieren aber an Steuerungswert, wenn sie sich der Formulierung völlig entziehen. Auf der anderen Seite liegt die Gefahr ihrer vorschnellen Ausformulierung in unerwünschter Fixierung und damit nicht selten in inhaltlicher Verflachung und Trivialisierung. …
Im Denken und Handeln der Gläubigen sind „hinter“ der Alltagssprache regulative Sätze wirksam, die auf Klärung und Kommunikation aus sind und die sich letztlich immer erneut die Wahrheitsfrage gefallen lassen müssen, ja, die selbst nach der Wahrheit drängen. Die Theologie befasst sich mit diesen Sätzen, ja, sie besteht aus regulativen Sätzen. Theologie im engsten Sinn des Wortes ist das Gesamt der als wahr verantworteten regulativen Sätze (implizite Axiome) (142).

Nach Ritschl wäre es somit die Aufgabe der Theologie, die den Stories zugrunde liegenden oder vielmehr in ihnen zum Ausdruck kommenden impliziten Axiome zu explizieren – und zwar immer wieder neu und anders, da sich die impliziten Axiome einer endgültigen sprachlichen Fixierung letztlich entziehen. Zugleich ist es Aufgabe der Theologie, das Gesamt der impliziten Axiome zu systematisieren, also das Verhältnis der einzelnen Sätze zueinander (das nicht spannungsfrei sein muss) zur Darstellung zu bringen. Und schließlich muss Theologie nach dem Wahrheitsgehalt der impliziten Axiome fragen.


Wie eine solche Analyse, kritische Reflexion aber auch ein kreativ-konstruktives Fruchtbarmachen der impliziten Axiome der biblischen Stories und der darauf basierenden christlichen Glaubensnarrative aussehen kann, lässt sich an Ritschls eigenen Arbeiten studieren, insbesondere am genannten Buch „Zur Logik der Theologie“, das er selbst als eine „kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken“ charakterisiert.
Ein anderes Beispiel ist Gerd Theißens „Die Religion des ersten Christentums“. Theißen zeichnet darin die Entwicklung des Urchristentums und der urchristlichen Religion in ihrer Vielgestaltigkeit, Dynamik und ihrem inneren Spannungsreichtum nach. Dennoch gelingt es Theißen, bestimmte Grundmotive und implizite Axiome zu identifizieren (z. B. Liebe, Statusverzicht …), die ein gemeinsames Netz bilden (391) und die dem Urchristentum sein eigens spezifisches Gepräge geben und seine Entwicklung prägen.

Implizite Axiome als Werkzeug der Diskursklärung und Veranschaulichung

In diesem Sinne lässt sich die Arbeit an den impliziten Axiomen auch für die gegenwärtige Diskussion um die Zukunft der Kirche fruchtbar machen. Sie dienen der Diskursklärung, aber auch der kreativen Weiterentwicklung.
Zum einen wäre es bereits ein wichtiger Schritt zu klären und transparent zu machen, welche Grundmotive und impliziten Axiome den Narrativen zugrunde liegen, die gegenwärtig in der Reformdiskussion bemüht werden. Welche Grundannahmen liegen zum Beispiel der (inzwischen nicht mehr ganz so oft bemühten) Erzählung vom Wachstum gegen den Trend zugrunde? Wie wird hier Wachstum (quantitativ oder qualitativ?) verstanden, und ist Wachstum ein Wert an sich? Wie verhalten sich dabei das Einzelne und das Kollektiv zueinander, wenn sich etwas gegen den Trend ereignet? Und ist der Trend gut oder schlecht, veränderbar oder unabänderlich?
Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Welche impliziten Axiome und Vorstellungen von Gemeinde liegen den Diskussionen um die Zukunft der Parochie zugrunde? Hier gibt es beispielsweise die Erzählung, dass Kirche die Nähe zu den Menschen verliert, wenn sie sich aus der Ortsgemeinde „zurückzieht“ und stärker regio-lokal arbeitet; demgegenüber müssten vielmehr alle Kräfte in der Ortsgemeinde gebündelt werden. Welche Grundannahmen liegen dieser Erzählung zugrunde? Was ist hier Kirche? Was heißt „nahe“? Wer sind „die“ Menschen?
Bereits an diesen beiden Beispielen wird deutlich, wie schnell eine Analyse der Narrative und der ihnen zugrunde liegenden Axiome eine theologische Tiefendimension erhält. Die (kritische) Aufklärung der den Narrativen zugrunde liegenden Axiome und ihre (kritische) Diskussion in der Reformdebatte ist eine zutiefst theologische Aufgabe – jenseits aller reformorganisatorischen Erwägungen.
Die Frage nach den impliziten Axiomen der die gegenwärtige Diskussion prägenden Narrative schafft so nicht nur Transparenz, sondern sie ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung und ist die Voraussetzung für bewusste und verantwortete Entscheidungen.
– Dabei zeichnet es die Qualität einer theologischen Reflexion aus, dass sie selbst wiederum ihre eigenen Axiome und Prämissen, auf deren Grundlage Narrative befragt und ggf. kritisiert werden, transparent macht. –

Zugleich wohnt der Arbeit an und mit den impliziten Axiomen aber auch eine konstruktive und kreative Dimension inne. Denn es können ja nicht nur vorhandene Narrative analysiert (und kritisiert) werden, sondern umgekehrt kann, wer die eigenen Axiome geklärt hat, Narrative, Metaphern und Vergleiche bewusst auswählen, um zu veranschaulichen und zu vermitteln.
Schon unsere christliche Tradition bietet eine spannungsreiche Fülle an Geschichten und Bildern. Welche dieser Geschichten ist jetzt wie zu erzählen? Und welche vielleicht jetzt nicht? Jede Predigt, jeder Vortrag, jede Unterrichtsstunde steht vor der Herausforderung, aus der Fülle auszuwählen und zu pointieren. – Freilich umfasst jedes Narrativ immer mehr als die in ihm gesuchten Axiome, wodurch sich eine Eigendynamik und im besten Fall ein Dialog entwickeln kann. –

Und schließlich können sogar neue Narrative erfunden und neue Geschichten erzählt oder gesucht werden. Das Erfinden und Erzählen neuer Geschichten geschieht eigentlich sowieso ständig – oft eher zufällig und spontan, im Alltag ebenso wie in Diskursen. Auf der Grundlage geklärter Axiome kann dies aber auch bewusst und gezielt erfolgen. Brauchen wir nicht gerade jetzt dringend neue Geschichten? Geschichten, die Mut machen, die Hoffnung geben und Menschen eine Ahnung vom Sinn und Ziel des ganzen Transformationsstress vermitteln? Diese Geschichten können als strukturierende Elemente in den Diskursen fungieren und dazu beitragen, die komplexen Prozesse des Wandels narrativ zu ordnen. Sie ermöglichen es, abstrakte Zielvorstellungen in greifbare Szenarien zu übersetzen und Orientierung für die Praxis zu schaffen. Gerade in dynamischen Transformationsphasen gewinnen Narrative eine zentrale Funktion als kommunikative Brücken zwischen verschiedenen Akteursgruppen.

Die Arbeit an den impliziten Axiomen bietet also ein hilfreiches Werkzeug für die gegenwärtige Transformationsdiskussion, um die zugrunde liegenden Annahmen und Ideale der aktuellen Narrative und Entscheidungsprozesse zu klären und gezielt zur Diskussion zu stellen und umgekehrt handlungsleitende Axiome in Mut machende Geschichten zu übersetzen.
Die Arbeit an den impliziten Axiomen stellt somit eine wichtige Brücke zwischen theologischer Theorie und kirchlicher Praxis dar. Sie kann theologischen Idealen und pragmatischen Handlungen sinnvoll miteinander verbinden und befähigt die Kirche, den Herausforderungen der Gegenwart reflektiert und konstruktiv zu begegnen.

Dieser Text ist unter Nutzung einer KI entstanden. Die tragenden Ideen, Gedanken und Überzeugungen stammen vom menschlichen Autor; die KI war Werkzeug und Resonanzraum.

Implizite Axiome

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