Armin Nassehis „Kritik der großen Gesten“ und die kirchliche Transformationsprozesse

Der Soziologe Armin Nassehi hat mit seiner Kritik der großen Gesten eine pointierte Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse vorgelegt. Darin fordert er dazu auf, „anders über gesellschaftliche Transformation nach[zu]denken“.
Angesichts aktueller Krisenerfahrungen kritisiert er Lösungsansätze, die auf Betroffenheit, eindringliche Appelle und symbolträchtige „große Gesten“ setzen. Diese verpuffen jedoch regelmäßig angesichts der Komplexität und Trägheit moderner Gesellschaften – insbesondere durch die Eigendynamik ihrer Subsysteme. Stattdessen plädiert Nassehi für einen evolutionären Ansatz, der auf die Kraft vieler kleiner Schritte setzt.


Die Illusion einer Gesellschaft „aus einem Guss“

Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern seine Überlegungen auf die gegenwärtigen Transformationsprozesse der Kirche angewendet werden können. Was lässt sich von Nassehi lernen? Wo ist es – gerade mit Blick auf Kirche als Bekenntnisgemeinschaft – notwendig, über ihn hinauszudenken?
Nassehis Ausgangspunkt ist die vielfach erhobene Forderung nach einer grundlegenden Transformation der Gesellschaft – insbesondere angesichts der Erfahrung multipler Krisen, allen voran der Klimakrise. Dabei konstatiert er einen massiven Widerspruch: Einerseits stehen moralische Ansprüche, Dringlichkeit, Betroffenheit und ein pathetischer Gestus im Zentrum vieler Transformationsappelle. Andererseits bleiben diese Appelle und Maßnahmen oft wirkungslos, was wiederum zu einer weiteren Steigerung des Pathos, zu politischen und gesellschaftlichen Radikalisierungen und schließlich zum Ruf nach autoritären Lösungen führt.

In dieser Diastase wird für Nassehi jedoch gerade das Grunddilemma der modernen Gesellschaft sichtbar – es wird „visibilisiert“: Die Vorstellung einer Gesellschaft „aus einem Guss“ ist eine Illusion. Es existiert kein gemeinschaftliches Wir, an das man appellieren könnte. Vielmehr besteht die moderne Gesellschaft aus einer Vielzahl von Subsystemen, die oft widersprüchlich und in Konkurrenz zueinander stehen. Diese Subsysteme sind nicht nur voneinander unabhängig und folgen ihrer eigenen Logik – sie neigen auch zu einer gewissen „Maßlosigkeit“, indem sie alles aus der Perspektive ihrer eigenen Systemlogik deuten und zu ihrem Gegenstand machen. Besonders augenfällig zeigt sich dies in der gegenwärtigen Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche.

Gerade diese Differenzierung macht die Moderne leistungsfähig, aber auch konfliktanfällig. Denn die Subsysteme arbeiten zwar effizient innerhalb ihrer eigenen Logik, doch ihre jeweiligen Ziele stehen in Konkurrenz zueinander. Die zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften besteht daher nicht allein in der Verteilung begrenzter Ressourcen, sondern vielmehr in der Koordination der verschiedenen Subsysteme mit ihren teils unvereinbaren Zielsetzungen. Moderne Gesellschaften leiden also nicht nur an Verteilungsproblemen, sondern an echten Zielkonflikten.


Das Problem der großen Gesten und zentraler Steuerung

Vor dem Hintergrund dieser Analyse kritisiert Nassehi nun alle großen Gesten, alle Appelle an ein gemeinsames Wir oder an das Ganze – ebenso wie alle „großen“ Lösungen, die den Anspruch erheben, die Probleme der Gesellschaft durch einen zentralen Masterplan top-down lösen zu können. Solche „symbolischen Großprojekte“ scheitern, weil sie die Komplexität und Trägheit der Subsysteme unterschätzen.

Nassehi karikiert diese Versuche als Vorstellung eines weißen, unbeschriebenen Blatts oder als ein Spiel mit Zinnsoldaten, die man glaubt, beliebig hin- und herschieben zu können. Tatsächlich aber lassen sich gesellschaftliche Strukturen nicht so einfach umgestalten. Und anstatt sich mit den eigentlichen WAS-Fragen zu befassen (Was soll getan werden? Was sind die Fakten? Welche Maßnahmen sind sachlich begründet und praktikabel?) rücken zunehmend WER-Fragen ins Zentrum (Wer spricht? Gehört er zu „uns“? Mit welcher Weltanschauung tritt sie auf?).

Bemerkenswert ist, dass Nassehi hier – durchaus im pejorativen Sinne – mehrfach den Begriff des Bekenntnisses (S. 124, 166, 171) verwendet. Er kritisiert, dass Überzeugungs- und Zugehörigkeitsfragen („die Welt als Wille und Einstellung“, S. 150) zunehmend Vorrang vor Sachkompetenz und einer nüchternen Einsicht in reale gesellschaftliche Strukturen erhalten.


Evolutionäre Veränderung statt radikaler Umbrüche

Statt großer Gesten und dem vergeblichen Versuch einer zentral gesteuerten gesellschaftlichen Transformation setzt Nassehi auf eine evolutionäre Entwicklung durch viele kleine Schritte. Für ihn ist es die Summe solcher kleiner Schritte innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme, durch die sich Gesellschaft selbst transformiert – reflexiv, schrittweise und ohne zentralen Masterplan.

Er macht dies an zahlreichen Beispielen fest: an neuen Produktionsprozessen, an Innovationen in Entwicklungsabteilungen, an Veränderungen in der Städteplanung, an Experimenten in Forschungslaboren oder an der Umgestaltung globaler Lieferketten. Diese vielfältigen, dezentralen Prozesse tragen zur Veränderung bei – ohne dass ein einheitlicher „Großentwurf“ sie steuert. Kleine Schritte bedeuten für Nassehi keineswegs kleine Lösungen (S. 215), sondern konkrete, realistische und situationsadäquate Veränderungen, die in ihrer Summe die Gesellschaft evolutionär transformieren.

Statt (scheinbar) revolutionärer Maßnahmen empfiehlt Nassehi also eine Strategie der schrittweisen Veränderung. Steuerung bedeutet für ihn nicht zentralistische Kontrolle, sondern vielmehr Ermöglichung und Befähigung. Aufgabe von Leitung und Führung wäre es dann nicht, top-down eine Strategie durchzusetzen, sondern vielmehr Freiräume zu eröffnen, in denen solche kleinen evolutionären Schritte möglich werden. Oder, wie er es formuliert: „Strategien … müssen dieser Evolution gewissermaßen auf die Sprünge helfen“ (S. 218).

Mit diesem Ermöglichungsansatz knüpft Nassehi explizit an die Capability- oder Befähigungsethik von Amartya Sen und Martha Nussbaum an. Damit betont er, dass Veränderung nicht durch Anordnung, sondern durch das Schaffen von Möglichkeiten erfolgt – durch Strukturen, die Menschen in die Lage versetzen, selbst aktiv zu werden und Wandel herbeizuführen.


Kritische Würdigung von Nassehis Ansatz

Nassehis Kritik der großen Gesten liefert präzise Beobachtungen und treffende Analysen gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Sein Ansatz zwingt dazu, „anders über gesellschaftliche Transformation nach[zu]denken“. Auch für die Debatte um kirchliche Transformationsprozesse ist hier viel zu lernen.

Jedoch ist kritisch zurückzufragen, ob sein evolutionärer Lösungsansatz nicht zu einseitig bleibt – insbesondere aufgrund seines konsequent systemtheoretischen Ansatzes und der damit verbundenen Betonung der Eigendynamik von Subsystemen. Wird dadurch nicht unterschätzt, dass es immer wieder revolutionäre Veränderungen gibt? Dass Individuen und kleine Gruppen Entwicklungen nachhaltig beeinflussen können? Und dass Ideen und Visionen nicht nur Begleiterscheinungen von Transformationen sind, sondern oft deren eigentliche Triebkraft?


Die Möglichkeit revolutionärer Veränderung

Nassehi setzt stark auf „kleine Schritte“ und unterschätzt dabei die Möglichkeit tiefgreifender, plötzlicher revolutionärer Veränderungen. Die Geschichte zeigt, dass Transformationen oft nicht allmählich und evolutionär verlaufen, sondern in bestimmten Situationen sprunghaft erfolgen – sei es durch politische Revolutionen, gesellschaftliche Umbrüche oder technologische Innovationen.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Subsysteme keineswegs immer träge und eigenlogisch agieren. Unter bestimmten Bedingungen können sie hochgradig dynamisch reagieren – insbesondere dann, wenn übergreifende Entwicklungen mehrere Subsysteme gleichzeitig erfassen. Ein jüngstes Beispiel ist die Digitalisierung: Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sie nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche transformiert – von Wirtschaft und Wissenschaft bis hin zu Kommunikation und Kultur.


Die Rolle von Individuen und Gruppen

Ebenso unterschätzt Nassehi die entscheidende Rolle von Individuen und Gruppen in Veränderungsprozessen. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass entschlossenes Handeln Einzelner oder kleiner Gruppen Entwicklungen nicht nur begleitet, sondern oft erst in Gang setzt.

Gerade in der (Kirchen-)Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele für tiefgreifende Transformationen, die durch Einzelne oder zunächst kleine Gruppen entscheidend angestoßen wurden. War es nicht oft Einzelne wie Franziskus, die spirituelle Erneuerungsbewegungen anstießen, oder Martin Luther, der mit seinen Thesen die Reformation in Gang setzte?

Diese Beispiele machen deutlich, dass Veränderung nicht nur aus evolutionären Kleinschritten entsteht, sondern oft – mitunter gegen bestehende Systeme – durch Pioniere angestoßen wird. Dies gilt nicht nur für politische und gesellschaftliche Umbrüche, sondern auch für Entwicklungen innerhalb der Kirche. Große kirchliche Reformbewegungen begannen häufig mit kleinen Gruppen, die sich zunächst am Rand bewegten, dann aber durch Überzeugungskraft und Beharrlichkeit ganze Strukturen veränderten.


Die Kraft von Ideen und Visionen

Ein weiterer blinder Fleck in Nassehis Analyse ist die transformative Kraft von Ideen, Überzeugungen und Visionen. Sein Ansatz wirkt mitunter technokratisch – als seien veränderte Einstellungen bloß ein Ergebnis gelungener Transformationen (S. 198), nicht aber deren Voraussetzung oder Motor. Doch oft sind es gerade geteilte Visionen und Überzeugungen, die Menschen überhaupt erst motivieren, sich für Veränderungen einzusetzen und die aus den Überzeugungen von Einzelnen (s. o.) Massenbewegungen werden lassen.

Was mobilisierte die Massen in der Französischen Revolution? Was ließ die Menschen in der DDR für ihre Freiheit auf die Straße gehen? Und was machte aus Thesen zum Ablasshandel eine neue Kirche – wenn nicht geteilte Ideen, Visionen und Hoffnungen?

Natürlich ließen sich diese Prozesse wiederum auf viele kleine Schritte in Subsystemen zurückführen. Doch ihre transformative Kraft entfalten sie erst, wenn sie Menschen vereinen und die Grenzen einzelner Subsysteme überschreiten.

Denn damit Schritte – ob groß oder klein – überhaupt unternommen werden, braucht es eine Motivation. Und damit aus der Summe kleiner Schritte ein Fortschritt wird, braucht es eine gemeinsame Richtung. Beides aber – Motivation und Richtung – speist sich aus Ideen, Hoffnungen oder Visionen. Und um diese aufzubauen, zu vermitteln und zu stärken, braucht es nicht nur kleine, sondern mitunter auch große Gesten.


Das dialektische Verhältnis von Systemen, Menschen und Ideen

In beiden Fällen – sowohl bei Individuen und Gruppen als auch bei Ideen und Visionen – erkennt Nassehi einen wichtigen Teilaspekt, vernachlässigt aber den anderen. Das Verhältnis von Systemen und Menschen sowie von Ideen und Organisationen müsste dialektischer gedacht werden: als wechselseitige Beeinflussung.

Systeme prägen Menschen, ihre Einstellungen und ihr Handeln – sie setzen Rahmenbedingungen und schaffen Möglichkeiten oder Begrenzungen. Doch ebenso können Menschen Systeme verändern, herausfordern oder sogar umstürzen.

Auch Ideen und Visionen sind nicht nur Produkte gesellschaftlicher Kontexte, sondern oft selbst treibende Kräfte, die Strukturen und Organisationen grundlegend transformieren. Diese Dynamik verdient mehr Aufmerksamkeit, denn gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht linear und nicht nur in kleinen evolutionären Schritten, sondern im ständigen Wechselspiel von Beharrung und Umbruch, System und Individuum, Strukturen und Überzeugungen.


Kirche in der Krise – zwischen Strukturproblemen und Glaubensverlust

Trotz der genannten Einwände treffen viele von Nassehis Beobachtungen und Analysen auch auf die gegenwärtigen Transformationsprozesse der evangelischen Kirche zu. Mitgliederschwund, finanzielle Einbußen und der Verlust gesellschaftlicher Relevanz machen grundlegende Probleme der Organisation Kirche sichtbar. Nassehi würde hier von einer „Visibilisierung“ sprechen: Probleme, die zuvor latent vorhanden waren, treten nun unübersehbar zutage und drängen massiv ins Bewusstsein.

Doch ist dies nur eine organisatorische Krise – oder zeigt sich hier nicht vielmehr ein grundlegenderes Problem? Ist es nicht zugleich eine tiefgreifende Glaubenskrise und ein wachsendes Desinteresse an traditionellen religiösen Formen, das die Kirche in ihrer gegenwärtigen Transformation herausfordert? Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass viele Appelle und „große Gesten“ der Kirchenleitung wirkungslos verpuffen – sie erreichen die Menschen nicht mehr oder erzeugen nicht die erhoffte Resonanz.


Die Kirche als komplexes System mit Zielkonflikten

Eine mögliche Erklärung für das Scheitern vieler kirchenleitender Aktionen könnte – folgt man Nassehi – darin liegen, dass auch die Kirche ein komplexes gesellschaftliches System ist, das aus verschiedenen Subsystemen mit jeweils eigener Logik und Dynamik besteht. Diese Subsysteme folgen ihren eigenen Regeln, sind beharrungskräftig und nur begrenzt steuerbar.

So arbeitet beispielsweise die Diakonie nach völlig anderen Systemlogiken als die kirchliche Bildungsarbeit; für die Seelsorge gelten wiederum andere Rahmenbedingungen als für die Jugendarbeit. Strukturell verstärkt wird diese Eigendynamik der Subsysteme durch den spezifischen Aufbau der evangelischen Kirche. Jede Kirchengemeinde und jedes Dekanat ist eine eigene Körperschaft des öffentlichen Rechts mit eigenen Strukturen und Entscheidungsbefugnissen. Die Diakonie wiederum ist oft in eigenständigen Werken, Gesellschaften oder Stiftungen organisiert. Hinzu kommt, dass sowohl in den Gemeinden und Regionen als auch in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen höchst unterschiedliche Bedingungen herrschen, auf die Kirche flexibel und differenziert reagieren muss.

Zwischen diesen kirchlichen Subsystemen entstehen deshalb nicht nur Verteilungskonflikte – etwa um knappe Ressourcen wie Geld, Personal oder öffentliche Aufmerksamkeit. Im Anschluss an Nassehi ist ebenso nüchtern festzustellen, dass zwischen den kirchlichen Subsystemen oft echte Zielkonflikte bestehen. Kirche vereint Glaubensvermittlung, soziale Verantwortung und institutionelle Verwaltung – doch diese Bereiche verfolgen nicht immer dieselben Ziele.

Besonders deutlich wird das an den immer wiederkehrenden Spannungen zwischen dem missionarischen Auftrag und den sozialen Aufgaben der Kirche. Während die eine Seite den Schwerpunkt auf Glaubensweitergabe und spirituelle Erneuerung legt, steht für die andere Seite die soziale Verantwortung und gesellschaftliche Relevanz im Vordergrund. Welche Prioritäten in welchen Kontexten gesetzt werden, bleibt oft umstritten – und macht Steuerung zusätzlich schwierig.


Die Grenze zentraler Steuerung und die Macht der kirchlichen Subsysteme

Und so lässt sich auch in der Kirche beobachten, wie jede kirchenleitende Maßnahme sofort auf Gegenreaktionen stößt, die aus der Eigenlogik der Subsysteme resultieren. Versuche einer zentralen Steuerung – sei es auf Landeskirchen- oder EKD-Ebene – treffen immer wieder auf Widerstände; Appelle verhallen wirkungslos.

Auch die kirchlichen Subsysteme sind weder Zinnsoldaten, die sich beliebig hin- und herschieben lassen, noch unbeschriebene Blätter, die sich nach Belieben formen lassen. Die Vorstellung einer Kirche „aus einem Guss“ ist daher genauso unrealistisch wie die Idee einer Gesellschaft „aus einem Guss“. Stattdessen muss auch innerhalb der Kirche(n) die Vielfalt kirchlicher Subsysteme, ihre Zielkonflikte und ihre Konkurrenz wahrgenommen und aktiv gestaltet werden.

Bemerkenswert ist zudem, dass sich auch in kirchlichen Kontexten die von Nassehi beschriebene Verschiebung von Sachfragen hin zu Identitätsfragen beobachten lässt – ja, dass sie sich dort besonders stark zeigt. So werden beispielsweise Fragen nach einer zukunftsfähigen kirchlichen Organisationsstruktur – die aus protestantischer Perspektive eigentlich nachgelagert sind – häufig zu theologischen Identitätsfragen hochstilisiert. Die in den Diskussionen stereotyp auftauchende Frage nach „den theologischen Grundlagen“ dieser oder jener Maßnahme lässt sich häufig letztlich als Identitätsfrage dekonstruieren.


Kirchenleitung zwischen Steuerung und Ermöglichung

Folgt man Nassehis Kritik der großen Gesten, müsste sich die Kirchenleitung – ebenso wie kirchenleitende Gremien wie die Synode – konsequent von allen Gesamtsteuerungsversuchen verabschieden. Stattdessen bestünde ihre Aufgabe darin, evolutionäre kleine Schritte in den verschiedenen kirchlichen Subsystemen zu ermöglichen und diese zu eigenständigen Transformations- und Problemlösungsversuchen zu befähigen.

Doch genau hier stellt sich die entscheidende Frage: Soll Kirchenleitung wirklich jede Form der Transformation unterstützen, nur weil sie irgendwo entsteht? Nimmt sie damit nicht ein ungeordnetes Trial-and-Error-Prinzip in Kauf, einen Konkurrenzkampf, in dem sich am Ende das Survival of the Fittest durchsetzt? Sind die damit verbundenen Verluste und die Opferung der Schwächeren mit christlichen Werten vereinbar?

Zugleich ist inhaltlich-theologisch fraglich, ob z. B. Selbstsäkularisierungsentwicklungen oder andererseits sektenhafte Selbstabschließungsentwicklungen wirklich gefördert werden sollen. Oder muss Kirchenleitung vielmehr den Prozess leitend oder lenkend agieren? Ist das nicht geradezu ihre Aufgabe?

Doch damit stellt sich eine weitere Frage: In welche Richtung soll sie lenken? Nach welchen Kriterien? Mit welcher Motivation? Die Herausforderung verschärft sich dadurch, dass die Kirche als Bekenntnisorganisation sich immer wieder Rechenschaft darüber ablegen muss, inwiefern laufende Transformationsprozesse mit ihren Grundüberzeugungen und Hoffnungen übereinstimmen. Wenn die Kirche christliche Kirche bleiben will, muss sie sich transformieren – aber nicht beliebig. Jede Transformation, jeder Transformationsversuch ist daher letztlich eine Frage der Identität – oder, um den von Nassehi verpönten Begriff zu verwenden: eine Frage des Bekenntnisses.

Doch wie kann sich die Kirche über ihre Identität verständigen? Wie kann sie sicherstellen, dass Transformation im Einklang mit ihren Grundlagen, Überzeugungen und Werten geschieht? Dazu braucht es nicht nur Diskurse, sondern eben auch Gesten – und gelegentlich auch große Gesten. (An dieser Stelle sei an Schleiermachers Ausführungen zum „darstellenden Handeln“ erinnert.) Und ist Kirche nicht geradezu die Fachagentur zur Inszenierung großer Gesten?


Ambidextrie: Zwischen kleinen Schritten und großen Gesten

Insofern ist Nassehi recht zu geben: Kirchenentwicklung wird immer Befähigung und Ermutigung zu Innovationen und kleinen Veränderungsschritten vor Ort sein – und das bedeutet an vielen Orten zugleich. Doch sie muss auch mehr sein: die Entwicklung einer theologisch verantworteten gemeinsamen Zukunftsrichtung, Zukunftshoffnung – ja, einer Zukunftsvision.

Ist es nicht genau das, was Menschen motiviert, sich überhaupt erst auf den Weg zu machen? Dazu braucht es Gespräche, Austausch, Diskussionen – aber eben auch Erzählungen, Darstellungen, Gesten und Erleben. Zukunft kann nur als gemeinsame Zukunft gedacht werden – nicht als Überleben einiger weniger. Genau diesem gemeinsamen Zukunftsraum muss kirchenleitendes Handeln verpflichtet sein.

Die große Herausforderung besteht deshalb darin, Raum für individuelles Wirken, für Innovationen und für mutige Versuche zu schaffen – und dabei die eigenen Überzeugungen und Werte nicht zu verraten, sondern im Gegenteil zu stärken. Gleichzeitig muss dieser Raum offen bleiben für eine gemeinsame Zukunft.

In den Debatten über Kirchenreformen fällt oft der Begriff Ambidextrie – meist im Sinne einer Balance zwischen dem Bewahren bewährter Strukturen und dem Schaffen neuer innovativer Potenziale. Doch es braucht noch eine andere Form der Balance: die Balance zwischen kleinen, evolutionären Schritten und der Kraft großer Gesten.


Dieser Text ist unter Nutzung einer KI entstanden. Die tragenden Ideen, Gedanken und Überzeugungen stammen vom menschlichen Autor; die KI war Werkzeug und Resonanzraum.

Zwischen Vision und Freiraum

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